April 2006. Bukarest steht Kopf. Das Rückspiel im UEFA-Cup-Viertelfinale zwischen Steaua und Lokalrivale Rapid ist das größte Sportereignis, dass die fußballverrückte Metropole seit langer Zeit erleben darf. Genau genommen seit 1986, als erstgenannter Club sensationell den Landesmeisterpokal gewinnen konnte.
Dabei sein ist alles und so flog ich an einem schönen Donnerstagmorgen in die rumänische Hauptstadt. Begleitet wurde ich von meinem Kumpel… hmmm, nennen wir ihn Horst, Niedersachsens größte Nachwuchshoffnung in der nichtolympischen Disziplin des Stadionsammelns.
Für uns beide sollte es der erste Aufenthalt in Rumänien sein. Nach einem ersten kleineren Kulturschock – eine etwa 70-Jährige reinigte ihren komplett entkleideten Körper am Hauptbahnhof in aller Öffentlichkeit – und erfolgreich absolvierter Hotelsuche war es auch schon an der Zeit, in Richtung Spielort aufzubrechen.
Das Hinspiel bei Rapid endete 1:1, was viel Raum für Phantasien von einer legendären Europapokalschlacht ließ. Da Steauas Ground wegen Renovierungsarbeiten nicht zur Verfügung stand, sollte sich diese im großen Nationalstadion ereignen. Eine riesige Ostblockschüssel der alten Schule in erfrischend abgefucktem Zustand.
Dort war auch schon die sprichwörtliche Hölle los. Straßenhändler, die Sonnenblumenkerne und ähnliche Knabbereien feilboten, bettelnde Romakinder, ein massives Polizeiaufgebot und natürlich Tausende lärmende Fußballfans. Nach Klärung der Ticketfrage wollten wir das Lia-Manoliu-Stadion schnellstmöglich betreten, was sage und schreibe sechs Sicherheitskontrollen später auch gelang.
Der Wettstreit entsprach dann leider nicht ganz unseren Erwartungen – Endstand 0:0, Steaua im Halbfinale. Beide Mannschaften agierten angesichts der ungewohnten Kulisse doch sichtlich gehemmt und übernervös. Echte Torchancen bleiben Mangelware. Wir waren dennoch nicht unzufrieden mit dem Gesehenen. Ergebnisbedingt war es spannend bis zur letzten Sekunde, zudem wurden wir Zeuge eines geradezu enthemmt anfeuernden Gästepöbels.
Während nur wenige Meter über uns auf der Ehrentribüne die versammelte Bukarester Unterwelt um Vereinspräsident Gigi Becali das Weiterkommen des einstigen Armeesportclubs feierte, wurden wir von einem Polizisten angesprochen. Er hatte wohl mitbekommen, dass wir uns auf Deutsch unterhalten haben und hielt den Studentenausweis und die Krankenkassenkarte eines anderen deutschen Stadionbesuchers in der Hand.
Wie es der Zufall so wollte, kannte Horst den Verlierer – Bayernfan – tatsächlich. Er versprach also, sich der Sache anzunehmen. Da Horst den rechtmäßigen Eigentümer auf die Schnelle nicht ausfindig machen konnte, übergab er die Kärtchen einem anderen Bayernanhänger, der in der gleichen Reisegruppe unterwegs war. Für uns war die Angelegenheit damit erledigt. Und ja, an diesem Abend waren wirklich eine Menge teutonische Fußballtouristen im Stadionul National unterwegs.
Wir blieben nach diesem kleinen, amüsanten Intermezzo noch etwas im Stadion. Offizielle Begründung: um Fotos von der nun menschenleeren Arena machen zu können. Inoffizielle Begründung: um endlich was in den Magen zu bekommen. Hinter der Tribüne fand ich unglücklicherweise den erhofften Fress-Stand. Pro-Tipp: Wenn es zuvor den halben Tag in der rumänischen Frühlingssonne gelegen hat, sollte man um ein dick mit Mayonnaise bestrichenes Sandwich besser einen großen Bogen machen.
So mancher Fehler rächt sich erst mit ein wenig Verspätung. Und so besuchte ich am nächsten Tag statt einer Drittligapartie in der Provinz die Bahnhofstoilette der Hauptstadt. Wie sich herausstellte, war es an diesem stillen Ort bei weitem nicht so schmutzig, verkommen und erbärmlich wie zuvor befürchtet. Glauben Sie mir, es war noch viel schlimmer. Doch das ist eine andere Geschichte. Tags zuvor sollten größere Probleme Herausforderungen auf uns warten.
Wir wollten das Stadion gerade verlassen, als wir von einem Polizisten aufgehalten wurden. Ein Typ, der in jedem US-Collegefilmchen den Quarterback spielen könnte – ungefähr 1,90 m groß, muskelbepackt und blondgelockt. Aufgeregt fragte er nach dem Verbleib der von uns bereits vergessenen Kärtchen. Die Dinger wurden uns wohlgemerkt von einem seiner Kollegen anvertraut. Keine Ahnung, wie er Wind von der Sache bekommen hatte.
Es folgte ein Sprachgewirr babylonischer Ausmaße. Während ich unser beider Englisch als ok bis gut bewerten würde, bewegte sich das der Polizisten etwa auf dem Niveau der Deutschkenntnisse Kevin Großkreutz‘: „Hey you! You stopp! You here!“
Ach so, ja, hatte ich vergessen zu erwähnen: Mittlerweile hatte der fortan Anführer genannte Schutzmann Verstärkung angefordert und so kreisten nun fünf riesige, in martialischen schwarzen Schutzpanzern gewandete Polizisten den winzigen Horst ein. Ich stand einen halben Meter entfernt und versuchte zu vermitteln.
Doch das war nicht so einfach. Englisch funktionierte, wie gesagt, nicht so richtig und unser Rumänisch war wenig überraschend nicht satisfaktionsfähig. So einigten sich Horst und der Anführer auf Französisch. Da ich dieser Sprache leider überhaupt nicht mächtig bin, war ich keine große Hilfe („Scheiße, was heißt nochmal Krankenkasse auf Französisch?“) bei den Verhandlungen. Zudem kann ich weite Teile des Disputs nur anhand von Erzählungen wiedergeben.
Jedenfalls schien es so, als seien wir an den letzten ehrlichen Bullen Bukarests geraten. Einer, der trotz des überall sichtbaren sozialen Ungleichgewichts, trotz Legionen von Klebstoff schnüffelnder Kinder stets den süßen Verlockungen der Korruption standgehalten hat. „Vor dem Gesetz sind alle gleich“ – eine durchaus löbliche Maxime. Aber wenn Falschparkern mit der selben Borniertheit wie Mafia-Killern begegnet wird, sollten gewisse Verhältnismäßigkeitssensoren vielleicht doch einmal einer Inspektion unterzogen werden.
Und wir hatten ja noch nicht einmal falsch geparkt. Wir hatten uns genau genommen überhaupt nichts zu Schulden kommen lassen. Doch der Anführer wollte Horst die Geschichte mit den beiden Bayernfans einfach nicht abkaufen. Vielleicht litt der gute Mann auch einfach nur unter chronisch schlechter Laune. Aber dann wird man doch besser Busfahrer in Gelsenkirchen statt Polizist in Bukarest.
Es folgte der Kultsatz des Abends, ach was sag ich, aller bisher gemeinsam mit Horst unternommenen Ausflüge. Glücklicherweise griff der Anführer – nur der Fußballgott weiß warum – für dessen Verkündung wieder auf die Reichhaltigkeit seines englischen Sprachschatzes zurück:
I NOT TRUST YOU!
Du nicht vertrauenswürdig. Groß. Art. Ig. Vor meinem geistigen Auge sah ich Horst schon bis ans Ende seiner Tage für seine großflächig tätowierten Zellengenossen Cosmin und Nicolae nach dem Bimsstein bücken; Luxusartikel wie Seife gab es in meinem imaginären Folterknast selbstredend nicht.
Es wurde also höchste Zeit für eine allerletzte, verzweifelte Charme-Offensive. Wir gaben wirklich alles, um die Polizistentraube von der Unwichtigkeit der beiden Dokumente (wahr) und der Kameradschaft und Solidarität innerhalb der deutschen Groundhopping-Szene (glatt gelogen) zu überzeugen. Eine gefühlte Ewigkeit später hatten wir das kaum noch für möglich Gehaltene erreicht und durften als freie Männer gehen.
Am Samstag, Magen und Darm hatten sich bereits wieder erholt, stand dann ein Ligaspiel beim damaligen Erstligisten National Bukarest auf dem Plan. Als wir das Stadiontor passierten, glaubten wir unseren Ohren nicht zu trauen: „Hey you! You stopp!“
Erschrocken drehten wir uns um und tatsächlich stand dort der Anführer höchstpersönlich. Sichtlich gut gelaunt präsentierte er sein schönstes Zahnpastalächeln und streckte uns die Hand zur Begrüßung entgegen. Die Chance auf eine große Busfahrerkarriere im Ruhrgebiet hatte sich hiermit zerschlagen.
Da ist Loddar doch weit eloquenter: „I respect you not!“
Immerhin möchte Lodda keine Leute in den Knast stecken. Apropos eloquent: Ich war mal so frei, Deinen Link zu korrigieren (das „.to“ muss weg).