Ein Experiment: Vom Libero zur Viererkette

Disclaimer: Dieser Artikel ist keine wissenschaftliche Abhandlung, die Methode der Datenerhebung hat Schwächen und die Ergebnisse sind auch nicht repräsentativ. Sie sollen vielmehr eine Entwicklung aufzeigen und ich denke, das tun sie auch ganz gut.

Rom, 8. Juli 1990: Deutschland besiegt Argentinien mit 1:0 und holt sich damit den dritten Weltmeistertitel. Das Fundament der kaum geprüfte DFB-Abwehr bilden Klaus Augenthaler auf der Libero-Position und Jürgen Kohler als Prototyp des Vorstoppers.

Kapstadt, 3. Juli 2010: Deutschland demütigt Argentinien im WM-Viertelfinale mit 4:0. Deutschland verteidigt wie sämtliche Mannschaften des Turniers mit einer Viererkette, bestehend aus zwei Außen- und zwei Innenverteidigern.

Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser defensivtaktische Paradigmenwechsel mittlerweile betrachtet wird, ist bemerkenswert. Denn natürlich hat es eine Übergangsphase gegeben, in der bestimmte Trainer immer wieder versuchten, diese neue Abwehrphilosophie umzusetzen und dafür nach ersten Schwierigkeiten nicht selten vom Boulevard abgestraft wurden. Wann hat diese eingesetzt und wie lange hat sie gedauert?

Diese Frage kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Kein Wunder. Sein eigenes Altern begreift man schließlich auch eher beim Stöbern in 20 Jahre alten Fotoalben und nicht beim täglichen Blick in den Spiegel.

Und hier kommt dieses Internet ins Spiel. Da sich mit dem Wechsel von Mann- zu Raumdeckung nicht nur das System, sondern auch Positionsbezeichnungen geändert haben, sollte es doch möglich sein, mit Hilfe einer einfachen, quantitativen Textanalyse Trends in der Verwendungshäufigkeit abzubilden.

Nur wo suchen? Datenbanken für Online-Publikationen fallen weg, da sie maximal bis Mitte der Neunziger zurückreichen, als der Umbruch gerade im vollem Gange war und die Zeit davor logischerweise überhaupt nicht abgedeckt wird. Ich musste mich also nach Archiven von Print-Erzeugnissen umsehen, die seit mindestens Mitte der 80er in gleichbleibendem Rhythmus erscheinen und eine Volltextsuche in allen seitdem gedruckten Artikeln erlauben.

Nach einigen Recherchen wurde ich dann auch fündig: Die elektronischen Gedächtnisse der gedruckten Ausgaben der Welt, des Spiegels, der taz und des Bonner General-Anzeigers mussten als Datenquelle herhalten.

Die Wahl der zu suchenden Vokabeln fiel auf „Vorstopper“ und „Innenverteidiger“, da diese Positionen meines Wissens neben dem Fußball nur in der für dieses Experiment vernachlässigbaren Randsportart Hockey gebräuchlich sind. Dazu kommt, dass die Begriffe im Singular und Plural identisch sind und diesbezüglich also keine Verzerrungen eintreffen dürften.

Der analysierte Zeitraum erstreckt vom 1. Januar 1987 bis zum 8. November 2010. Die Suchtreffer eines jeden Jahres wurden gezählt und medienübergreifend addiert. Hieraus ergibt sich folgendes Diagramm:

█ = Vorstopper —- █ = Innenverteidiger

Die erste Erwähnung des Innenverteidiger-Begriffs gabe es im Weltmeisterjahr 1990. Dann wurde es wieder etwas ruhiger, ehe 1996 zum ersten mal der Vorstopper in der Häufigkeit der Nennungen übetroffen wird. Ironischerweise gewinnt Deutschland den EM-Titel im gleichen Jahr mit dem Libero Matthias Sammer.

Es folgen vier Jahre mit einem knappen Vorsprung für den Vorstopper, erst 2000 erleben Innenverteidiger und Viererkette vermutlich ihr endgültiges Coming of age. In den 00er-Jahren geht die Häufigkeit der Erwähnungen für den Innenverteidiger dann förmlich durch die Decke. Die Infografik musste ich daher aus Gründen der Übersichtlichkeit auch etwas anpassen.

Kollateral-Erkenntnis: Interesse am Fußballsport und Publikationsvolumen haben in den vergangenen zehn Jahren eine erstaunliches, überproportionales Wachstum erfahren. So bewegt sich die Trefferhäufigkeit für Vorstopper heute nahezu auf dem selben Niveau wie vor zehn Jahren.

Besonders interessant sind die Ergebnisse der Recherche im Archiv der Tageszeitung. Wo Sport früher offenbar kaum eine Rolle spielte, wird inzwischen selbstverständlich und regelmäßig über Fußball berichtet. Es hat demnach eine Annäherung gebildeter, linker Kreise an den Fußball stattgefunden, die zumindest teilweise den Erfolg des Zeitschriftenprojekts 11 Freunde erklärt.

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