16 Profijahre hat er beim berühmtesten Fußballverein der Welt verbracht. Sechs spanische Meisterschaften und drei mal die Champions League gewonnen. Im Juli tauschte Raúl das Trikot der Königlichen gegen das königsblaue Dress des FC Schalke. Auf der Suche nach den Gründen für den spektakulärsten Bundesliga-Transfer dieses Sommers.
Überalterung, Armut, Arbeitslosigkeit – Gelsenkirchens Image ist mit „schlecht“ noch wohlwollend umschrieben. Und tatsächlich ist es nicht schwer, diese Klischees vor Ort bestätigt zu bekommen. Wer sich über die Kurt-Schumacher-Straße dem Vereinsgelände von S04 nähert, kann viele Probleme des Ruhrgebiets in komprimierter Form erleben. Eine furchtbar schmucklose Nachkriegsarchitektur bestimmt die Szenerie, zahlreiche Ladenlokale stehen leer und vom eintönige Grau der abgasgegärbten Fassaden können noch nicht einmal die berühmt-berüchtigten „Fensterrentner“ ablenken.
Zehn nationale und sechs internationale Titel, 44 Treffer in 102 Länderspielen, bester Torschütze in der ruhmreichen Geschichte des spanischen Rekordmeisters – Raúl und Real, das war immer ganz oben. Was verschlägt einen wie ihn in den Kohlenpott?
Ein Montagnachmittag Ende November. Es ist nicht übermäßig kalt, Windböen und gelegentlicher Nieselregen machen den Aufenthalt im Freien dennoch zu einem ungemütlichen Erlebnis. Das öffentliche Training der Profimannschaft des FC Schalke 04 beginnt um 16 Uhr, die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Etwa 200 bis 250 Zuschauer trotzen den widrigen Umständen und werden von den Ausdünstungen einer mobilen Frittenbude betört.
Die Erwartungen des Vereins an Raúl sind klar: Er soll als Führungspersönlichkeit auftreten, seine Erfahrung ist insbesondere in der Champions League gefragt. Felix Magath hat aus seiner Bewunderung für den „Ausnahme-Fußballer und Weltklasse-Torjäger“ sowieso nie einen Hehl gemacht. Und auch nach Eingewöhnungs-Schwierigkeiten stets an seinem Wunscheinkauf festgehalten. Dieser hat seine Stammplatzgarantie jüngst durch den Dreierpack beim 4:0 gegen Werder Bremen eindrucksvoll gerechtfertigt.
Das Training leitet Magath sichtlich gut gelaunt. Seine Anweisungen beschränken sich dennoch auf das Nötigste. „Jetzt Fünf gegen Zwei“. Ein Klassiker, den jeder Fußballspieler auf diesem Planeten kennt. Das Übersetzen für die spanischsprachigen Spieler kann sich Christoph Metzelder sparen. Mit ihm und Sturmpartner Klaas-Jan Huntelaar hat Raúl bereits in Madrid zusammengespielt, die jungen Landsleute José Manuel Jurado und Sergio Escudero komplettieren die kleine iberische Kolonie.
Vom us-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Business Week wurde Gelsenkirchen einmal das Prädikat „schlimmste Kommune Deutschlands“ verliehen. Doch das ist – wenn überhaupt – nur die halbe Wahrheit. „Fußballverrückteste Stadt Deutschlands“ wäre genauso zutreffend. Die Fahnen-Pro-Fenster-Dichte ist wohl nirgendwo sonst so hoch wie hier, gleiches gilt für den Hunger nach Erfolg: Die über 60 000 Zuschauer fassende Arena ist fast immer ausverkauft.
Vom fußballgeprägten Alltagsleben der Gelsenkirchener dürfte Raúl allerdings herzlich wenig mitbekommen. Wohnt er mit seiner Familie doch im Düsseldorfer Zooviertel, Tür an Tür mit dem Geldadel der Landeshauptstadt. Exklusiver kann man auch in Madrid nicht residieren. Und besser ist das Wetter im November dort auch nicht unbedingt.
Ist es nun die Wertschätzung durch Trainer, Verein und Fans, die Raúl den Wechsel zu Schalke schmackhaft gemacht habe? Die Nestwärme der spanischen Mitspieler? Die Herausforderung, sich noch einmal in einer ausländischen Liga beweisen zu müssen?
Zeit, ihn einfach mal selbst zu fragen. Leichter gesagt als getan. Nach Trainingsende stürzt sich alles auf den 33-Jährigen. Mütter fotografieren ihre Söhne mit Raúl, Söhne fotografieren ihre Mütter mit Raúl. Señor, eine Frage vielleicht, auf Englisch? „Sorry“, meint Raúl González Blanco und deutet mit einem entwaffnenden Lausbubengrinsen auf die ihn umringende Traube von jugendlichen Autogrammjägern. Doch egal wie seine Antwort auch ausgefallen wäre – seine Entscheidung hat der Weltstar in Gelsenkirchen offensichtlich nicht bereut.