95 Thesen zum Videobeweis

"Thesen VAR

Ja, wir sind einen Tag zu spät dran. Ja, es sind nur vier 17. Jedenfalls sind wir – auch ohne konkreten, aktuellen Anlass – in der Redaktion einstimmig der Meinung, dass der Videobeweis respektive VAR in seiner derzeit dargebotenen Form nicht funktioniert, nicht funktionieren kann, nicht funktionieren wird. Aus folgenden Gründen:

1.) Fehlende Demarkationslinien

Was ist, wenn 20 Sekunden vor dem zu beurteilenden Handspiel ein nichtgeahndete Abseitsstellung vorliegt? Wie verhält es sich bei einem falschen Einwurf 90 Sekunden vorher? Was ist mit dem elfmeterreifen Foul auf der anderen Seite 2:30 min. zuvor? Wie will man da verdammt noch mal eine Grenze ziehen?

2.) Abseits

Anhand des Videomaterials stellt sich raus, dass der Torschütze doch im Abseits stand, der Treffer wird zurückgenommen: Alles tacko, kein Problem

Anhand des Videomaterials stellt sich raus, dass der alleine aufs Tor zulaufende Stürmer entgegen der Entscheidung des Schiedsrichtergespanns doch nicht im Abseits stand: Tja, Pech gehabt…

3.) Handspiel

Machen wir uns nichts vor: Wäre die Handspielregel eine Stadt, sie wäre Berlin. Total kaputt, da hilft eigentlich nur noch Einstampfen und kompletter Neuaufbau. Solange es aber keine Vereinheitlichung im Regeltext und bei der Auslegung gibt, wüsste ich nicht, wie der VAR da für mehr Gerechtigkeit sorgen kann.

4.) Technik

Die härtesten Schüsse im Fußballsport erreichen Geschwindigkeiten von bis zu 200 km/h und mehr. Das sind umgerechnet 55,56 Meter pro Sekunde. Nun habe ich keine Informationen darüber gefunden (Wer es weiß: Bitte in die Kommentare damit!), mit welcher Bildwiederholungsfrequenz das Cologne-Broadcasting-Center das Videomaterial zur Einschätzung von strittigen Spielsituationen angeliefert bekommt. Gehen wir einmal von PAL und 50 Bildern pro Sekunde aus: Ein Torschuss mit einer Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h würde dann bis zu 1,11 m pro Einzelbild zurücklegen. Hinzu kommen Bewegungsunschärfe und der Umstand, dass die Szene normalerweise anhand einer Totalen und nicht etwa mit einer Großaufnahme des Schussbeins beurteilt werden muss.

Eine exakte Bestimmung des Moments der Ballabgabe ist so also gar nicht möglich, schon gar nicht mit dem menschlichen Auge unter Zeitdruck. Und trotzdem werden (auch schon vor dem Videobeweis) in den Live-Übertragungen der TV-Sender irgendwelche Standbilder eingeblendet und auf deren Basis dann absolute Aussagen darüber getroffen, ob nun eine knappe Abseitsstellung oder nicht vorliegt. Ohne das Zulassen von Restzweifeln oder „Können wir so einfach nicht beurteilen.“ – wollt ihr mich eigentlich verarschen?

6.) Elfmeter… was?

Hat vielleicht gar nicht direkt mit der Einführung des VAR zu tun, aber wieso wird die zu früh reinlaufende Mannschaft bei einem verschossenen Strafstoß mit einer Wiederholung belohnt?

7.) Fehlende Grauzonen sind lächerlich

In der NFL gibt es bei einer nicht 100%ig klar zu entscheidenden Situation nach dem Review die Option „Call stands“ (= wir haben zu wenig, um die zuerst getroffene Schiri-Entscheidung zu überstimmen). Diese Grauzone traut sich der Fußball nicht, das ist absurd.

8.) Zweifel an der Neutralität

Man muss sich nicht über Zweifel an dessen Neutralität wundern, wenn man den VAR in Köln platziert. Dann kommt sowas bei raus. Das Videoassistcenter müsste an Spieltagen nicht zurückverfolgbar in einem Truck auf deutschen Autobahnen unterwegs sein. Wie die Foundation für Recht und Verfassung.

9.) Mangelnde Transparenz im Stadion

Wann kann man sich eigentlich über ein Tor seiner Mannschaft freuen? Also ich als Stadionzuschauer würde ja total erwachsen und besonnen reagieren, wenn mir Felix Zwayer über Lautsprecher erklärt, warum der Siegtreffer in der 94. Spielminute vom VAR zurückgenommen wurde.

10.) Verwegene Träume

Schon mittags in zwielichtigen Kellergewölben rumsitzen, bisschen Scheiße vor sich hinentscheiden und vor allem gaaaaanz viele Flachbildfernseher. Der #VAR ist Robert Hoyzers Souterrain gewordener feuchter Traum.

11.) Es wird so lange gesucht, bis irgendwas (Kontakt!) gefunden wird

Und sei es eine noch so kleine Lappalie. Wenn sich die Auslegung der Szene auf Schalke im November durchsetzt (nachdem sich das der VAR sogar angesehen hat), ist z. B. Pressing nicht mehr möglich. Beim Ball abschirmen wild ausholen -> „Kontakt“ -> auf den Ball werfen. Absurd.

12.) Alte, noch längst nicht geflickte Hüte

Wir zitieren wörtlich:

Der 5. Juli 2012 könnte in die Fußballgeschichte eingehen: Die Mitglieder des International Football Association Board (IFAB) haben sich für die Einführung der Torlinientechnologie entschieden. Diese soll zunächst bei der Club-WM in Japan, beim Confederations Cup 2013 und auch bei der WM 2014 in Brasilien getestet werden. Erst danach wird entschieden, ob das Verfahren auch auf nationaler Ebene, also etwa in der deutschen Bundesliga, zum Einsatz kommt.

Eine revolutionäre Maßnahme, die den Fußball fairer und damit besser macht? Eher nicht.

Wie oft wird etwa im Laufe einer Bundesligasaison darüber gestritten, ob ein Schuss die Torlinie in Gänze überschritten hat? Gefühlt vielleicht an jedem zweiten Spieltag, die tatsächliche Häufigkeit dürfte noch darunter liegen. Das Wembley-Tor ist ja gerade deshalb seit Jahrzehnten Gesprächsthema, weil es so außergewöhnlich war.

Über einen 1990 im Römer Olympiastadion ertönten Elfmeterpfiff wird „an den Fußball-Stammtischen der Republik“ (sorry…!) hingegen so gut wie nie diskutiert. Klar, auch weil Deutschland davon profitiert hat. Darüber hinaus gibt es falsche und zweifelhafte Elfmeterentscheidungen einfach in fast jedem Spiel, sie sind sozusagen Fehlentscheidungsalltag. Gleiches gilt für das leidige Thema Abseits.

Die Torlinientechnologie wird den Fußball, wenn überhaupt, nur ein wenig gerechter machen. Das Beispiel Ukraine – England (EM 2012) – einem hinter der Linie geklärten Ball (Tatsachenentscheidung: kein Tor) war eine klare Abseitsposition vorausgegangen – zeigt ferner, dass dieses Tool auch für zusätzliche Verwirrung und Diskussionen sorgen kann.

Wenn man sich schon dafür entscheidet, die Qualität der Spielleitung mit technischen Hilfsmitteln zu verbessern, dann bitte auf breiter Ebene. Der alleinige Einsatz der Torlinientechnologie wirkt willkürlich und wie ein fauler Kompromiss.

Dem ist wenig hinzuzufügen.

13.) Phantasie

Kannste dir eigentlich auch nicht ausdenken, dass sich der beliebteste und finanzstärkste Sport der Welt beim Videobeweis derart blamiert.

14.) Der Stammtisch hat ja dann gar nichts mehr zu diskutieren!!!1

Drollig bei Videobeweis-Diskussionen ist ja die Annahme, dass dadurch „die Diskussionen“ aufhören würden. Tragen die alle Scheuklappen? Witzig auch: In jedem anderen Zusammenhang ist „Stammtisch“ schlecht konnotiert. Nur beim Thema Videobeweis ist er der Gipfel der Fußballkultur.

15.) Watt iss mit die Amatöre

Tja. Hat darüber mal irgendjemand nachgedacht? Nicht? Haben wir uns schon gedacht.

16.) Vergleiche, Vergleiche, Vergleiche

Dann vergleicht man Fußball eben mit Eishockey, wenn es um den Videobeweis geht. Oder mit American Football. Oder Äpfel mit Birnen. Ist doch scheinbar eh alles egal.

17.) Beschwerdestellen

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